East Coast

Nachdem ich den zweitschlimmsten persönlichen Verkehrsinfarkt meines Lebens überstanden habe – an den erstschlimmsten in Istanbul kam dann auch diese Erfahrung nicht ganz heran – freue ich mich ungemein, im Halbdunkel endlich vor dem Haus von Alex und Moira in Brooklyn anzukommen und ganz leicht einen Parkplatz zu finden. Geht doch! Die beiden sind so unglaublich liebe, entspannte und freundliche Menschen, dass es mir sofort ganz gemütlich wird. Beide kommen ursprünglich aus Minnesota und sind dann für Job bzw. Masterstudium in den großen Apfel gezogen. Alex zeigt mir den besten Pizzaladen in der insgesamt sehr hippen Nachbarschaft. Auf dem Rückweg kommen wir am Auto vorbei und „dödümm“, natürlich war der Parkplatz von vorhin ein wenig zu einfach zu finden gewesen. Ein grauer Hydrant hat sich geschickt getarnt neben mein Auto auf den Bürgersteig geschlichen und ich soll jetzt $115 bezahlen, weil die Feuerwehr, wenn sie denn kommen müsste, kein kaltes klares Wasser mehr zapfen könnte, ohne die Karre vorher wegzumachen.
Am nächsten Tag fahre ich aufgeregt zum Flughafen, um Julius abzuholen und fortan meinen Trip nicht mehr allein bestreiten zu müssen. Ein schöner Moment, als wir uns nach fast einem Jahr plötzlich am JFK wiedersehen! Gemeinsam verbringen wir die nächsten Tage radelnd durch Manhattan und Brooklyn und oh my gosh, gibt es hier viel zu sehen, hören, riechen, erfahren. Wir finden eine ganz gute Mischung aus Touriprogramm und etwas weniger Standard-Kram. Natürlich fahren wir per Fähre an der Freiheitsstatue vorbei und erklimmen per Fahrstuhl das One World Trade Center, um die Vogelperspektive auf die Stadt selbst zu erleben. Wir besuchen das MoMA und erkunden Chinatown & Little Italy, Williamsburg und das Ukrainian Village, kehren in einige Bars und Restaurants ein, finden einen versteckten Garten mitten in der Stadt und erobern uns so Viertel für Viertel dieser unglaublich großen Stadt.
Vor allem aber versuchen wir, an jeder Ecke den spirit der Stadt einzusaugen. Ich behaupte mal, mir gelingt das ganz gut und ich verliebe mich in die Stadt. Natürlich muss man aufpassen, nicht verloren zu gehen zwischen hupenden Taxifahrern, riesigen Wall-Street-Türmen und rauchenden Gullyschächten. Wenn man aber weiß, was man möchte, dann bekommt man das in NYC auch. Bei Resident Advisor stoßen wir zufällig auf eine halbprivate rooftop party, gleich um die Ecke unserer Wohnung. Julius schneidet mir noch schnell auf dem Brooklyner Bürgersteig die Haare und dann schleifen wir Alex und Moira mit und können so den Sonnenuntergang über der Stadt vom Dach zu endlich mal guten elektronischen Klängen bestaunen. Der nächste Katermorgen eignet sich wunderbar, um unter praller Sonne in der Schlange für die Gratis-Tickets für das beliebte Schauspiel „Shakespeare in the Park“ erst den Rausch auszuschlafen und dann Frühstück delivery zu bestellen. Koordinierend wirkt hierbei Charlotte, eine gute Freundin aus Minnesota, New Yorkerin die wir hier noch 2-3 mal getroffen haben, schön sie noch einmal gesehen zu haben. Das eigentliche Stück am Abend, „the taming oft he shrew“ performt von einer rein weiblichen Crew, ist dann ganz cool anzuschauen aber auch nicht das aller-merk-würdigste Erlebnis.
Mehrere Tage lang entschließen wir uns, „noch einen“ weiteren Tag in dieser Stadt zu bleiben, die uns in ihren Bann gezogen hat und so verlängern wir nächteweise unser Schlafsofa bei Alex und Moira, ohne dass diese sich über die mangelnde Privatsphäre beklagen würden. Am Wochenende kommt sogar noch Alex‘ Bruder Perry zu Besuch und dann gibt es in der gesamten Wohnung endgültig kein Fußbreit freien Boden mehr. Am Ende haben wir nach über einer Woche Alex‘ und Moira’s Gastfreundschaft wirklich arg strapaziert. Tausend Dank ihr beiden, dass ihr uns so nett aufgenommen habt!

Von NYC fahren wir nach Philadelphia, Pennsylvania. Unser erstes Mal „im Auto schlafen“ ist einigermaßen malerisch in einem State Forest gelegen und fühlt sich nach großer Freiheit an. Weniger komfortable Nächte sollen folgen. Wir verstehen in Philly kurz und knackig die U.S.-amerikanische Unabhängigkeit indem wir einige Museen und ganz doll wichtige Artefakte besichtigen und wandern unter brennender Sonne durch die Innenstadt. Ohne ein einziges Cheesesteak gegessen zu haben, sind wir satt von Philly und machen wieder los.
Wir kommen in Washington D.C. pünktlich am 3. Juli, also einen Tag vor dem Nationalfeiertag 4th of July an. Leider kommt mit uns auch und ebenso pünktlich der Regen in Strömen in die Stadt. Die National Mall gleicht einem Regenwasserbaufeld am Nil. So hangeln wir uns von Unterstand zu Unterstand, können aber wenigstens ein paar Monumente – regelrechte Schreine – besichtigen, die hier für Amerikas ganz Große, also Washington, Lincoln und Co., erbaut wurden. Das Weiße Haus ist architektonisch ganz nett, mehr kann man dazu mangels Betrachtung aus der Nähe eigentlich nicht sagen. Als wir in der Nacht in einem National Park innerhalb der Stadtgrenze übernachten wollen, werden wir mitten in der Nacht nett aber bestimmt von einem Polizisten geweckt und verscheucht und müssen auf den nächsten Walmart-Parkplatz ausweichen. Am großen Datum 7/4 treffen wir mit Zack Laskaris den dritten Bruder dieser so unglaublich großzügigen und hilfreichen Familie. Zack ist bei Freunden Daniayla und Michael aus seiner College-Zeit einquartiert und nachdem wir uns von ebendiesen zu leckerem Essen haben führen lassen und zusammen das Feuerwerk, leider nur im Fernsehen, da die Rooftop-Bar doch keine gute Sicht auf das Spektakel bot, bestaunt haben, nehmen sie uns kurzerhand mit zu sich nach Hause und wir haben mal wieder für eine Nacht ein richtiges Bett.
Unsere Zwei-Mann-Karawane zieht nun wieder nordwärts und nach einem ersten längeren Autotag erreichen wir die Universitätsstadt New Haven. Hier arbeitet Julius‘ Hockey-Kumpel Bruno mit den Yale-Medizinern an einem Forschungsprojekt zur automatischen Tumorerkennung durch einen Computer-Algorithmus. Ziemlich verrückt, sehr spannend und natürlich vor allem total „cutting edge“. Wir hängen ein paar Tage bei Bruno ab, der uns die mächtige Uni zeigt, eine der Bibliotheken auf dem Campus hat etliche eingelegte Gehirne im Keller!, uns zum Squash mit in die Uni-Sporthalle schmuggelt, und uns vor allem vielen weiteren coolen Menschen vorstellt. Eines Abends lernen wir bei einem Umtrunk bei Bruno so auch Beatriz und Gonzalo kennen, die uns wiederum in Boston beherbergen werden. New Haven war insgesamt ein fantastischer Stop, mit dem kleinen Wermutstropfen des Ausscheidens der DFB-Jungs gegen Frankreich, welches wir in einer Kneipe in der Nachbarschaft mit einer überraschend großen deutschen Community betrauern.
Nahtlos weiter geht es mit wunderbaren Menschen und Erfahrungen, als wir weiter nach Boston fahren. Die vorher bei Bruno kennengelernten Spanier Bea und Gonzalo bereiten uns ein Lager in ihrer hübschen Wohnung gelegen in Cambridge, ziemlich genau auf halber Strecke zwischen den Campus von MIT und Harvard. Gleich am ersten Abend haben wir das Glück, mitgenommen zu werden in einen portugiesischen Club, in dem wöchentlich so wie an diesem Freitagabend fantastisches Essen von Meeresfrüchten bis Steak zu günstigen Preisen serviert wird. Ein echter Insidertipp also und mit der 10-köpfigen, bunt gemischten und wiederum sehr interessanten Gruppe wäre der Abend auch ohne die 8 Flaschen Wein super geworden. Mit natürlich auch. In der Altstadt von Boston dreht sich alles um Freedom und so laufen wir logischerweise den Freedom Trail entlang, der an viel zu vielen historischen Orten im Zusammenhang mit der U.S.-Revolution hält, um sie alle an einem Tag zu besichtigen. Besonders freue ich mich, Martha wiederzusehen, die ich auch noch von der U of Minnesota kenne. Außerdem schauen wir uns die Unis Harvard und MIT an, wobei es vor lauter Freaks auf der Suche nach Pokémon, es ist der erste Tag des Hypes und ja auch ich gehöre ein bisschen dazu, schwer ist, die Altehrwürdigkeit dieser Orte zu erfahren. Zum PhD-Studium würde ich trotzdem herkommen, wenn es sich ergibt.

Am frühen Morgen des folgenden Montages brechen wir auf nach Kanada.

Und los: Down to the East coast

Mit zwei lachenden Augen verabschiede ich mich am Morgen des Anfangs vom Vagabundenleben von Nancy und George. Eins lacht, weil ich hier eine tolle Familie gefunden habe und ich weiß, dass ich diese wunderbaren Menschen ganz sicher nicht zum letzten Mal gesehen haben werde. Das andere lacht, weil der Tag, auf den alles in den letzten Wochen irgendwie hin lief, endlich da ist. Das Auto ist komplett gepackt und startbereit, ich habe sogar schon eine Nacht darin Probe geschlafen, auf Nancy und George’s Basketballfeld hinten im Garten, und meine ersten 3 Stops sind dank der unschätzbar wertvollen Hilfe meiner American Mum and Dad durchgeplant. Ich muss also nur noch fahren, für alles andere ist gesorgt. Das ist natürlich schneller gesagt als getan, die Fahrt wird lang und –weilig.
Ich habe mir die Route nach New York City in drei ungefähr gleich große Teile eingeteilt und so muss ich jeden Tag mutterseelenallein zwischen sechs und acht Stunden über Highway-Asphalt rollen. Im Auto bleibt immerhin viel Zeit zum Nachdenken und Wach-Träumen und so male ich mir den bevorstehenden Trip schon mal in den schillerndsten Farben aus: Zuerst würde ich jetzt nach NYC runterfahren, um dort Julius einzusammeln. Mit diesem ginge es dann die komplette Ostküste der Staaten runter und wieder rauf. Nach Boston wollen wir nach Westen abbiegen und über die Grenze nach Kanada fahren. Von dort dann im Zickzack die schönsten Nationalparks einschließend coast-to-coast an die Westküste. Bei Seattle zurück in die USA, und den Highway 1 die Westküste runter bis L.A., wo wir Basti einsammeln würden. Von dort dann einige Tage ins Landesinnere, um die beeindruckenden Naturphänomene zu genießen, zurück nach L.A., Julius wegbringen, hoch nach San Francisco, Jonathan und Florian abholen, mit der Meute aufs Burning Man-Festival gehen und danach noch mal eben mit Basti durch den ganzen U.S.-amerikanischen Süden touren, um schließlich Mitte Oktober aus Florida zurück nach Deutschland zu fliegen. Man kann sich die Form der Route also wie ein riesiges C vorstellen, eine große öffnende Klammer, welche die USA umschließt. „Na, wenn das mal alles so hinhaut“ denke ich, als ich nach Chicago einrolle. Noch habe ich ein funktionierendes Auto, genug Reserven auf dem Konto und bin frohen Mutes. Wäre fast ein Wunder, wenn all das für immer so bliebe.
Im Norden Chicagos darf ich bei Sabine und Andrew übernachten. Er ist ein ehemaliger Student von George an der U, sie eine Deutsche auf Auslandsstation in ihrem Trainee-Programm. Kennengelernt haben sich beide in ihrer Ausbildung bei einem deutschen internationalen Unternehmen. Dieses Unternehmen bezahlt auch Sabines 2-Bedroom-Apartment mit einem ungenutzten Zimmer und so komme ich, wohl zum letzten Mal für ganz lange Zeit, sogar in den Luxus eines eigenen Zimmers für eine Nacht. Zu Abend essen wir beim örtlichen „Portillos“ – wieder genau so lecker, wie ich es aus meinem ersten Trip nach Chicago in Erinnerung habe. Danach gibt es noch NBA und das Staffelfinale von Game of Thrones auf die Augen und ich kann erst ins Bett gehen, nachdem ich mich ein wenig beruhigt habe.

Die Etappe des nächsten Tages führt mich durch Cleveland. Das trifft sich ganz gut, denn gerade am Vorabend haben die Cavaliers um LeBron James zum ersten Mal in der Geschichte der NBA die Finalserie gegen die Golden State Warriors um Steph Curry nach 3 Niederlagen aus 4 Spielen noch gedreht und sind die Basketball-Champions geworden. Das Herzschlagfinale hatten Sabine, Drew und ich gestern Abend auf der Couch verfolgt. Und so nehme ich einen, durch die vielen jubelnden Fans, die die Straßen verstopfen, mit fast 2 Stunden deutlich länger als gedachten Umweg in Kauf und fahre zur Heimarena der Cavs. Die offizielle Party findet erst in zwei Tagen statt, aber auch jetzt kann ich ein bisschen Gewinnerstimmung tanken, in dieser Stadt, in der seit den 60er Jahren kein großer Titel mehr gewonnen wurde. Den Rest des Tages bestimmen langgezogene Highways durchs Flachland und das blödeste Mautsystem aller Zeiten in Illinois – nur Du hast noch die Chance, das evtl. noch zu toppen, Alex D. – und ich bin glücklich, dass ich mir eine 400 Songs umfassende Spotify-Playlist mit dem Titel „Riding Flyover Country“ erstellt habe.
Sobald ich mich New York State nähere, ist es wenigstens mit der landschaftlichen Langeweile vorbei. Alles ist so grün hier, ein paar Hügel gibt es auch und vor allem hat Upstate New York nichts, aber auch gar nichts mit NYC gemein. Kurz nachdem ich vom Highway abfahre entdecke ich außerdem eine große Siedlung einer Amish community und kann mir einmal vorstellen, wie hier alle Menschen gelebt haben müssen, damals, als Amerika noch Sehnsuchtsort vieler Europäer war und sie hier mit dem Schiff und Hoffnung auf eine bessere Zukunft gelandet sind. Beth, George’s Schwester, ihr Ehemann Ron und sein Bruder Gary empfangen mich mit frischen Hamburgern vom Grill zum Abendessen. Ihr Grundstück ist bewaldet und mit 14 ha sehr weitläufig, es erinnert mich an das eines Freundes meines Papas in der Uckermark, das wir früher immer sehr gerne zum Urlaub mit der Familie genutzt haben. Als ich mir ein Glas des in dieser Gegend doch bestimmt sauberen Leitungswassers abfülle, gibt mir Beth stattdessen eine kleine Plastikflasche und erklärt mir, dass ein paar Unternehmen hier vor 15 Jahren mit dem Fracking begonnen hatten und man das Grundwasser hier seitdem lieber nicht mehr trinken soll. Na jut. Ron hat vor dem Grundstück ein großes Plakat aufgehängt, auf dem die Erhaltung des „second amendment“ beschworen wird, also das zur Verfassung hinzugefügte Recht eines jeden Amerikaners, eine Waffe zu besitzen. Ron, selber Vietnam-Kriegsveteran, macht von diesem Recht auch selber gleich in mehrfacher Ausführung Gebrauch. Nicht ohne Stolz zeigt er mir Teile seiner Waffensammlung und nicht ohne Ehrfurcht begutachte ich und probiere aus. Mit einer Kaliber .22 auf Dosen zu schießen mag ja noch ganz spaßig sein, aber spätestens als ich seine neue Knarre, eine Pistole zur – wie Ron es sagt – „Selbstverteidigung“ (vllt eine Glock oder Sig, hab ich vergessen) abfeuere, den Rückstoß spüre und vom Knall einen ordentlichen und lange andauernden Tinni bekomme, merke ich, dass solche Waffen für mich doch eher nichts sind und auch bitte für niemanden ohne entsprechendes Training etwas sein sollten. Am späten Abend stoßen wir zu einer kleinen Geburtstagsfeier einer Nachbarin hinzu und genießen Lagerfeuer und Vollmond.
Früh am nächsten Morgen mache ich mich auf meine letzte Pre-brotrip-Etappe durch den schönen Empire State. Es geht bis zur Stadtgrenze von NYC recht zügig voran, aber ab dort beginnt der Albtraum: Für die letzten 5 Meilen durch den Big Apple, brauche ich über eine Stunde, da ich ganz Manhattan zur rush hour durchqueren muss, um die Wohnung des Laskaris-Sohnes Alex in Brooklyn zu erreichen.